Vom Auftauchen und Verschwinden

E und U – Musik zur Erbauung, Musik zur Unterhaltung

Vorausschicken möchte ich für diesen Abschnitt der Serie, dass die Trennung von E und U möglicherweise ein Phänomen der deutschsprachigen Kultur, Kritik und Rezeption ist. Aber dennoch lassen sich Züge dieser Trennung in zwei Bereiche der Musik auch in anderen europäischen Kulturkreisen und im nordamerikanischen finden. Begonnen hat wohl diese Trennung damit, dass der Inhalt der vorbürgerlichen Musik, die höfische und kirchliche Repräsentation, nicht mehr im Zentrum stand.

Ich habe schon früher davon gesprochen, dass das bürgerliche Publikum der Kunst mit fast religiöser Verehrung gegenübertritt (was sich auch auf die Künstler selbst erstreckt, denken wir an Goethe oder Beethoven oder auch an Malewitsch oder Cage, die für das zwanzigste Jahrhundert ähnlich ikonisch sind). Ein Teil der Gelegenheitsmusik wanderte in die Konzertsäle und wurde dort zum künstlerischen Genuss, dem man andächtig lauschte – vom Standpunkt der vorbürgerlichen Musik ein Unding, dass ein Begleitelement der höfischen Repräsentation nun ein Eigenleben entfalten sollte, dass Tanzmusik wie das Menuett ein Teil des symphonischen Diskurses wurde. Dass eine missa, die liturgisch geregelte Musik zu einem Gottesdienst, als eine Konzertaufführung ohne sakrale Handlung angeboten wird, erscheint in dieser Logik geradezu als frevlerisch.

Aber trotzdem bleibt natürlich ein Rest an Musik, der – Andacht hin, Erbauung her – der Unterhaltung dient. Es wird auch weiterhin getanzt und gesungen. Dabei wird stets dasselbe Phänomen sichtbar: Eine Musik, die der Unterhaltung dient, wird immer elaborierter und niveauvoller, bis sie aus den Boulevardtheatern, Tanzhallen und Casinos in die Konzerthäuser eintritt. Dieses Schicksal erfuhr der Wiener Walzer genauso wie der amerikanische Ragtime, die in den 1890ern beide international bekannt geworden waren. Komponisten wie Johann Strauss Sohn und Scott Joplin legten größten Wert auf die Qualität der Musik, sowohl was die Komposition als auch was die korrekte Wiedergabe betraf. Und beide gingen dazu über, mehr als nur reine Unterhaltungsmusik zu schreiben. Joplin verfasste zwei Opern, Strauß die bekannte (oder besser: unbekannte) Menge an Operetten, die in die großen Theaterhäuser Einzug hielten. Und etwa zwei Generationen später zeigt sich dieselbe Entwicklung beim Jazz, der von Aufmärschen zu Festen, von Karnevalsfeiern und Tanzveranstaltungen den Weg in die Konzertsäle gefunden hatte und sich nun zur ernsten Musik zählt, der mit der entsprechenden Achtung zu begegnen ist.

E und U, Erbauung und Unterhaltung, haben aber nichts mit der Komplexität der gehörten und genossenen Musik zu tun. Eher sind sie Haltungen eines Publikums, das sich selbst in seiner Art der Rezeption und Aufnahme wiederfindet. Bildungsbürgerliche Attitüden, Zurschaustellung von spezifischer Schichtzugehörigkeit, die Kenntnis angeblich kanonischer Werke, all dies macht die Haltung aus, die ein Publikum einnimmt, um Musik als E-Musik zu konsumieren. Dazu kommt die Verehrung der Kunst selbst, der heilsame oder segensreiche Eigenschaften zugeschrieben werden; wie es Georg Kreisler so treffend und sarkastisch in einem seiner Chansons ausdrückt: „Die Bösen werden gut und die Kranken gesund, besonders bei Mozart und Bach.“

Der Kanon der E-Musik weist ihr Publikum als zutiefst bürgerlich aus. Die Trennung von E und U wäre für etwa Renaissancemusik oder Minnesang völlig sinnlos. Wo aber die Unterhaltung als eigene gesellschaftliche Sphäre auftritt, streng geschieden vom gehobenen Kunstgenuss, dort muss gegenüber der anderen Art von Musikkonsum auch ein anderes Verhalten entwickelt werden. Um es in marxistischen Kriterien auszudrücken: Wo Kunst zur Ware geworden ist, hat E-Musik etwas mit dem Gebrauchswert zu tun, also nicht mit dem Verkauf auf dem Markt (Tauschwert), sondern mit dem Gebrauch zur bürgerlichen Repräsentanz. Dazu passt dann der Kanon der E-Musik: Klassik und Romantik und die frühe Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts.

Barockmusik wird auf Bach beschränkt (Johann Sebastian, nicht seine Söhne), wohl auch auf Grund der romantischen Wiederentdeckung und Interpretation durch Felix Mendelssohn-Bartholdy, und auf Händel, wohl auch auf Grund des Charakters seiner Musik in einem England, das seine erste bürgerliche Machergreifung, seinen ersten Königsmord schon hinter sich hatte. Umgekehrt taucht die zeitgenössische Musik im Kanon der E-Musik nicht auf, da lebende Komponisten mit ihrer Musik noch nicht zu einem Objekt von Hingabe und Verehrung werden können, die den normalen Starrummel hinter sich lassen. Erst gewisse Zeit nach ihrem Tod werden sie diesem Kanon zugerechnet wie Schönberg, Berg und Webern.

So bleibt eine letzte Frage: Kann sich eins bei E-Musik unterhalten? Meiner Meinung nach ja, wenn auch für diese Art der Unterhaltung großer, auch intellektueller Aufwand mit großem Ernst betrieben wird und wohl das Moment des Repräsentierens selbst einen nicht unwesentlichen Platz der Unterhaltung einnimmt.